Mythos Mekong

Fischer am Mekong

Nong Khai am frühen Morgen. Es scheint, als habe sich der Mekong­ einen Schleier umgelegt. Dicke Nebelschwaden tanzen auf dem träge dahin fließenden Strom, während die Grenzstadt im Nordosten­ Thailands langsam aus dem Schlaf erwacht.

Nur schemenhaft sind die Fischer zu erkennen, die mit ihren schmalen Booten über das Wasser gleiten und immer wieder vom Dunst verschluckt werden. Noch während sich die wärmenden Sonnenstrahlen durch den Nebel kämpfen, fahren die Männer zurück ans Ufer, um dort den frischen Fang an die Händler zu verkaufen. Es ist wie ein morgendliches Ritual, das schon ihre Ahnen kannten und das auch heute aus dem Leben der Menschen nicht wegzudenken ist.

„Mae Nam“, Mutter Wasser, nennen die Thais voller Respekt ihre großen Flüsse – und kein Wort wäre passender. Sei es der Chao Phraya im Herzen des Königreiches oder der Mekong an der Grenze zu Laos – sie bewässern die Reisfelder, liefern fischreiche Nahrung und bieten spätnachmittags ein erfrischendes Bad. Wie eine Lebensader durchziehen sie das Land und ermöglichen die Existenz Hunderttausender Menschen.

Mit dem Mekong sind die Thais ganz besonders verbunden, denn an ihm entlang wanderten ihre Vorfahren vor über tausend Jahren aus dem Südwesten Chinas gen Süden. Was hat er nicht alles gesehen auf seinem gut 4800 Kilometer langen Weg von den Höhen des Tibet-Plateaus bis zur Mündung ins Südchinesische Meer. Er begleitete an seinen Ufern den Aufstieg des kambodschanischen Angkor-Imperiums ebenso wie die Geburt des laotischen Königreiches Lan Xang. Er sah die ersten Thai-Städte entstehen und zahllose Handlungsreisende aus ganz Asien an seinen Ufern entlang wandern. Auf dem Strom waren französische Forscher ebenso unterwegs wie chinesische Opiumschmuggler, kambodschanische Prinzessinnen und kommunistische Partisanen. Der Mekong brachte Menschen zusammen und trennte sie – wie in den 1970er- und 1980er-Jahren, als er zum Bambusvorhang zwischen Laos und Thailand wurde. Doch die Zeit der Spaltung ist vorbei, seit in Nong Khai 1994 die erste Freundschaftsbrücke zwischen den beiden Nachbarn eröffnet wurde. Heute gibt es vier Brücken und weitere sind im Bau.

Man sollte an Bord eines Schiffes gehen, denn nur so lernt man den wahren Charakter des Mekong kennen. Wie er seinen Weg durch enge Bergtäler bahnt, wo Stromschnellen die Navigation erschweren und Bambushaine sich sanft im Wind neigen. Wie er weite Ebenen durchfließt, in denen die Reisfelder kein Ende zu nehmen scheinen und sich kleine Nebenflüsse mit ihm vereinen. Kinder sind zu sehen, die sich nach Schulschluss freudvoll in seinen Fluten tummeln, aber auch Frauen, die mühsam ihre Wäsche waschen. Man kann Fischer beobachten, die am Ufer ihre Reusen auslegen und Lastkähne, die ihre Ware transportieren.

Und wenn der Schiffskapitän von „seinem“ Fluss erzählt, dann wird deutlich, wie respekteinflößend der Mekong noch heute ist. Wie tückisch seine Untiefen sein können und wie herausfordernd die scharfkantigen Felsen im Flussbett. Doch er wird auch von atemberaubend schönen Sonnenauf- und untergängen berichten können, wenn sich der Himmel feuerrot färbt und die Landschaft mit zunehmender Dunkelheit einem kunstvollen Scherenschnitt gleicht. Und wie unvergessen es bleibt, wenn der Mond sich in seinem Wasser spiegelt.

Bei einer Flussfahrt lernt man verstehen, dass der Mekong mehr ist als ein Strom, dass er den Menschen auch manche Lebensweisheit auf den Weg geben kann. Wenn man an der Reling steht und auf seine Strömung blickt, dann ist es, als wollte er sagen: Es lohnt sich immer, aufzubrechen und weiter zu gehen, weiter und weiter – trotz vieler Hindernisse und Gefahren. So wie es die Vorfahren der Thais vor langer Zeit taten, als sie seinem Flusslauf ins Unbekannte folgten und eines der bezauberndsten Königreiche Asiens schufen.

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